- Japan in der Isolation \(1603 bis 1868\): Das Schogunat der Tokugawa
- Japan in der Isolation (1603 bis 1868): Das Schogunat der TokugawaWorld within walls«, »Welt hinter Mauern«, hat Donald Keene seine Literaturgeschichte der Edozeit überschrieben und damit ein für westliche Betrachter wesentliches Merkmal Japans in dieser Epoche genannt, deren Name auf die Hauptstadt Edo, das heutige Tokio, verweist. Europäern galt die Verweigerung der Beziehungen zum Westen als ein Sündenfall, doch schon Engelbert Kaempfer, der sich von 1690 bis 1692 in holländischen Diensten in Japan aufhielt, hat ihre Notwendigkeit anerkannt. Für die nächsten 200 Jahre sollte sie Japan die Möglichkeit einer ungestörten Entwicklung bieten.1639 war die anfangs wohl nicht so geplante Abschließung Japans mit der Vertreibung der Fremden und dem Verbot für Japaner, das Land zu verlassen, vollendet worden. Dahinter stand ebenso die Furcht vor den Machtgelüsten der Kolonialmächte wie die Ablehnung des Christentums, zu dem sich Angehörige des Kriegerstandes wie des Volkes — insgesamt etwa 700000 Menschen — bekannt hatten. Auch die Enttäuschung darüber, dass sich der Handel mit den westlichen Ländern bei weitem nicht als so einträglich erwiesen hatte wie erhofft, war eines der Motive; vor allem aber stand zu befürchten, dass die inneren Verhältnisse, die erst im Jahre 1600 mit der Schlacht bei Sekigahara eine neue Ordnung gefunden hatten, erneut aus dem Gleichgewicht geraten würden. Ein Bauernaufstand auf der Halbinsel Shimabara 1636/37 hatte diese Gefahr verdeutlicht; die Beteiligung einer großen Zahl von Christen bestärkte zudem den Verdacht gegenüber dem Christentum und legitimierte seine Verfolgung. So wurde einer Epoche lebhaften internationalen Austauschs ein Ende gesetzt und der Außenhandel, mit dem einige der großen Territorialherren (Daimyō) ihre Macht gestützt hatten, der Kontrolle des Schogunats unterstellt. Neben den chinesischen wurden nur die niederländischen Kaufleute der Vereinigten Ostindischen Kompanie weiter zum Handel zugelassen, denen die künstliche Insel Dejima im Hafen von Nagasaki als Niederlassung diente.Die Pax TokugawaMachtsicherung für das Haus TokugawaEs wäre falsch, diese Maßnahmen als vor allem gegen das Christentum gerichtet zu sehen. Vielmehr festigte das Haus Tokugawa mit dieser Abschließungspolitik seine Macht. Nachdem Tokugawa Ieyasu mit dem Sieg bei Sekigahara 1600 seine Konkurrenten aus dem Feld geschlagen hatte, begann er, seine Führungsposition politisch abzusichern. Die Ernennung zum Schogun (Shōgun), zum Militärregenten, durch den machtlosen Kaiser (Tennō) im Jahre 1603 war die formale Anerkennung einer Macht, die durch den Sieg legitimiert war — und die 1615 durch die Vernichtung des Hauses Toyotomi, der einzigen Alternative, gefestigt werden sollte. Das Amt erhob Ieyasu über die Daimyō und übertrug ihm die Verantwortung für das Reich. Mit gesetzlichen Regelungen für Kaiserhof und Hofadel (Kinchū narabini kuge shohatto, 1615) sowie für Daimyō und Krieger (Buke shohatto, 1615) und durch die Wiedereinrichtung eines obersten Gerichts (Hyōjōsho, 1635) dokumentierten die Inhaber des Schogunats Macht und Herrschaft über das ganze Land.Zentrales Problem waren die mächtigen Kriegerfamilien, die auch dem Schogunat gefährlich werden konnten, und es galt, ein Gleichgewicht zu finden, das ihre Macht berücksichtigte und neutralisierte. So mussten die Daimyō die Burgen in ihren Territorien bis auf eine zerstören; ihre Angehörigen mussten als Geiseln am Sitz des Schoguns in Edo leben, während sie selbst ab 1634/35 im System des »sankin kōtai« (wörtlich: wechselnde Anwesenheit) in meist jährlichem Abstand zwischen ihrem Territorium und Edo wechselten. Diese aufwendigen Reisen dienten wie der zwangsläufige Unterhalt zweier Residenzen zugleich ihrer wirtschaftlichen Belastung: Die Aufwendungen dafür konnten über die Hälfte der Barauslagen eines Territoriums betragen. Daneben wurde die Kontrolle durch Neuordnung der Territorien gefestigt. Bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts verloren 213 Daimyō-Häuser ihren Besitz, andere wurden in ihrem Gebiet verkleinert oder in andere Territorien eingewiesen. Besitzungen befreundeter und neu belehnter Daimyō oder des Schogunats wurden strategisch so verteilt, dass mögliche Bündnispartner voneinander getrennt blieben. Das Ergebnis war eine veränderte Landkarte, in der sich die neuen Machtverhältnisse widerspiegelten. Nicht, dass das Schogunat übermächtig gewesen wäre, aber es verfügte über den umfangreichsten Territorialbesitz, der es zudem von den Steuerleistungen der Gefolgsleute unabhängig machte. Die Kontrolle des Bergbaus und das Münzrecht sollten wie auch der Außenhandel die wirtschaftliche Position des Schoguns stärken.Ein labiles GleichgewichtEs war ein diffiziles Gleichgewicht: Das Schogunat besaß zwar wirtschaftlich die größte Macht, war jedoch in dem Augenblick bedroht, da andere sich mit ihrem wirtschaftlichen Potenzial zusammentaten. Das Staatswesen musste ausbalanciert werden zwischen dem Schogunat als Zentrum, das die zentrifugalen Kräfte band, und den Territorialherren, den Daimyō, die ihren Besitz weitgehend selbstständig beherrschten. Die Beziehungen zwischen beiden Ebenen waren persönlich, durch die Gefolgschaft zwischen Daimyō und Schogun begründet, und nicht institutionell. Diese feudalistische Organisation spiegelte sich in der Verwaltungsstruktur des Schogunats wider: Den »Älteren Räten« (rōjū) oblag neben der nationalen Politik die Kontrolle der Daimyō, während die direkten Gefolgsleute des Schoguns, die »gokenin« und »hatamoto«, in die Zuständigkeit der »Jüngeren Räte« (wakadoshiyori) fielen. Für schwer wiegende Ausnahmefälle konnte ein Tairō, ein »Großer Berater«, berufen werden. Diesen Führungsgremien, die ihre Aufgaben gemeinschaftlich erfüllten, folgten die Verwaltungsbeamten, vor allem die Magistrate (bugyō) für die laufenden Geschäfte. Dass es in diesem System bis 1854 kein Amt für auswärtige Angelegenheiten gab, mag angesichts der Abschließung des Landes einleuchten. Bezeichnenderweise gab es an der Verwaltungsspitze auch keine eigene Position für die Finanzen des Schogunats. Selbst auf der unteren Ebene wurde erst 1633 ein entsprechendes Amt geschaffen und erst nach 1680 mit der Einrichtung des »kattegakari rōjū« die Verantwortlichkeit für die Finanzen aus den Aufgaben des Kollegiums der »Älteren Räte« ausgegliedert und einem einzelnen »rōjū« übertragen.Die Gesellschaft war in vier Stände gegliedert, mit den Kriegern (Daimyō und ihre Vasallen, die Samurai) an der Spitze, den Bauern als wichtigstem Stand des Volkes und den Handwerkern und Kaufleuten am Ende der Hierarchie; das Haus des Kaisers, Hofadel, Klerus und soziale Randgruppen waren ausgenommen. Damit wurde zumindest in der Theorie eine auf der konfuzianischen Soziallehre beruhende Standesordnung festgeschrieben, in der ein sozialpolitischer Ordnungsprozess seinen Abschluss fand. Dieser hatte mit den Schwertjagden im späten 16. Jahrhundert begonnen, als, um die immer wieder aufflackernden Kä mpfe um Landbesitz zu beenden, Kriegerfamilien vom Landbesitz getrennt und um die Burg ihres Daimyō angesiedelt, die Bauern aber entwaffnet wurden. Auf dieser Grundlage, von den Historikern als »bakuhan«-System (aus bakufu für »Schogunat« und han für die Territorien der Daimyō) bezeichnet, konnte das Staatswesen stabilisiert werden, auf ihr ruhte die »Pax Tokugawa«. Ein labiles Gleichgewicht, möchte man meinen, aber es sicherte den Frieden, der zur Grundlage einer dynamischen Entwicklung wurde und mehr als 250 Jahre Bestand hatte.Entwicklungen der EdozeitMan kann die Entwicklung der Edozeit unterschiedlich bewerten: pessimistisch, wie es dem Standpunkt der Krieger, insbesondere der Tokugawa entsprach, ebenso aber auch dem der konfuzianischen Gelehrten, deren Werke als wichtigste Quellen die moderne Geschichtsschreibung geprägt haben. Eine optimistischere Betrachtungsweise, die weniger den Machtverfall der Krieger in das Zentrum der Betrachtung stellt, ist demgegenüber weniger bekannt, obwohl sie für viele Entwicklungslinien eine angemessene Interpretation bietet.Die Ursache für den Machtverfall lag in der Organisation der Gesellschaft nach der konfuzianischen Soziallehre. Im 15. Jahrhundert in der Form des Song- oder Neokonfuzianismus erneut nach Japan gekommen, wurde diese in ihren Grundzügen in der Agrargesellschaft des 6. und 5.vorchristlichen Jahrhunderts entstandene Lehre auf eine Wirklichkeit angewandt, die ihr nicht mehr entsprach. Zumindest einige stärker entwickelte Gebiete, etwa die Region um Kyōto und Ōsaka, hatten die als Grundlage dieser Ordnung vorausgesetzte Naturalwirtschaft längst überwunden. Die Trennung der Krieger vom Landbesitz und deren Ansiedlung bei den Burgen der Daimyō ließ diese Siedlungen rasch zu »Städten« heranwachsen, zumal dort zur Versorgung auch Handwerker und Kaufleute lebten. So entstanden in allen Territorien große Konsumzentren, deren Bedarf über den Markt gedeckt werden musste (der Begriff der Stadt ist europäischen Ursprungs und war, wie damit verbundene Vorstellungen, zum Beispiel Stadtrecht, zu der Zeit in Japan nicht bekannt, er wird heute aber allgemein gebraucht).Von diesen Städten gingen kräftige Impulse aus, die zum einen die Entwicklung eines gesamtjapanischen Marktes in Ōsaka beschleunigten, zum anderen aber die Bauern zu einer intensiven Produktion anregten. Damit ließ sich auch die beabsichtigte Trennung der Bauern von Stadt und Geldwirtschaft nicht durchsetzen, denn im Umland der Städte stellten sie sich in ihrer Produktion auf die städtische Nachfrage ein.Kräftige Impulse für Agrarproduktion und HandelSo setzte, von den stärker entwickelten und stadtnahen Gebieten ausgehend, eine Kommerzialisierung des Ackerbaus ein. Daneben schritt auch die Ausbildung spezialisierter Erzeugergebiete voran, die Baumwolle, Tee, Seide und andere Waren für den Markt produzierten. Auch das System der Besteuerung trug zu dieser Entwicklung bei, da es die Bauern begünstigte, die durch neue Techniken, Investitionen und intensiven Anbau ihre Erträge vermehrten. Mit der wachsenden Nachfrage breitete sich diese intensivierte Landwirtschaft aus und erreichte allmählich auch abgelegenere Regionen, die so in die Kommerzialisierung einbezogen wurden. Auf diese Weise konnte die Agrarproduktion mit der wachsenden Nachfrage und den höheren Ansprüchen der städtischen Bevölkerung bis in das 1. Viertel des 19. Jahrhunders Schritt halten.Angesichts der großen Zahl städtischer Konsumzentren — in den knapp 300 Territorien gab es mindestens je eine Burgstadt, dazu kamen andere Städte, allen voran die Kaiserstadt Kyōto und Ōsaka, das rasch zum zentralen Handelsplatz wurde, außerdem Hafenorte, Verkehrsknotenpunkte und Pilgerzentren — erhielt der Handel kräftige Impulse. Hier fand unternehmerisches Handeln ein neues Feld, nachdem durch die Abschließung der Überseehandel unterbunden worden war. Daneben entwickelte sich ein umfangreiches Transportgewerbe, das durch Fluss- und Küstenschifffahrt wie durch Träger und Packpferde Erzeugerregionen, Märkte und Städte verband. Der Verkehr auf den für Wagen allerdings ungeeigneten Fernstraßen war nach Kaempfers Berichten äußerst lebhaft; an Flussübergängen und Poststationen entstand ein Gastgewerbe, das dem Reisenden alle Bequemlichkeiten zur Erholung und zum Vergnügen bot. Reiseführer unterrichteten ihn schon im 17. Jahrhundert bis hin zum Preis eines Bechers Tee über alle Einzelheiten.Wirtschaft und Gesellschaft unter den TokugawaDies alles stärkte Geld und Handel, sehr zum Kummer der herrschenden Krieger und der konfuzianischen Gelehrten, die am Ideal der Subsistenzwirtschaft, der ländlichen Selbstversorgung, festzuhalten versuchten und sich damit von der Entwicklung ausschlossen. Nicht, dass sie wirklich verarmt wären, aber die städtischen Lebensbedingungen unterschieden sich von den traditionellen auf dem Land: Dienstleistungen und Waren kosteten Geld, während die Einkünfte der Krieger vor allem aus Naturalabgaben bestanden, an deren Umwandlung in Waren die Kaufleute verdienten. Auf deren Kredite war man angewiesen, wenn die Erträge nicht reichten. Kein Wunder, dass der Gelehrte Ogyū Sorai von einem »Leben wie im Gasthaus« sprach. Wer mit dem Lebensstandard mithalten wollte, geriet in Gefahr, sich zunehmend zu verschulden. Die konfuzianischen Gelehrten sahen darin eine Bedrohung. Die Abhängigkeit der zur Herrschaft bestimmten Krieger (das Wort meinte im Konfuzianismus eigentlich »die Tugendhaften«, »Gelehrten«) von den Kaufleuten kehrte die natürliche Ordnung um, stellte die vom Universum gesetzte Ordnung der Gesellschaft in Frage. Deshalb gehörten Wirtschaft und Gesellschaft zu den zentralen Themen ihres Denkens, deshalb forderten sie Reformen.Es waren die unteren Stände, die vom wirtschaftlichen Aufschwung Vorteile hatten, und zwar nicht nur die Kaufleute, sondern ebenso die Bauern und das Stadtvolk. Gewannen die oberen Schichten des Bauernstandes durch die Anpassung ihrer Produktion an den Markt, so fanden die ländlichen Unterschichten wie Kleinbauern und Pächter im Nebenerwerb einen Zusatzverdienst, der ihnen das Leben erleichterte. Das konnte die Aushilfe in einer Sakebrauerei sein, die im Winter produzierte, wenn im Ackerbau die Arbeit ruhte, das waren ebenso die Arbeit am Webstuhl oder andere gewerbliche Tätigkeiten. Erst recht boten die Städte neue Verdienstmöglichkeiten. Schon im 17. Jahrhundert klagten Tempel und Kriegerfamilien, die mit dem Land auch ihr Gesinde verloren hatten, über die Schwierigkeit, Dienstboten zu finden. Handel und Gewerbe konkurrierten um Arbeitskräfte, boten denen leichter zu verdienenden und oft besseren Lohn, die bereit waren, ihr Heimatdorf zu verlassen und als Saisonarbeiter oder für immer in die Stadt zu ziehen.Wohlgemerkt, Japan war keine Insel der Seligen: Nicht alle hatten Anteil am Wohlstand, Überwachung und soziale Kontrolle waren streng, auch geringe Vergehen wurden hart bestraft, und wenn Missernten das Land heimsuchten, kosteten die Hungersnöte zahllose Menschenleben. Aber es gab eine gesicherte Existenzgrundlage für das Stadtvolk, das vom Land immer neuen Zuzug erlebte. So wuchs in den Städten jene kritische Masse heran, die Handel und Gewerbe immer neue Impulse verschaffte und die Entwicklung weiter vorantrieb. Das System des »sankin kōtai«, das die Daimyō nötigte, jährlich mit großem Gefolge zwischen ihrem Territorium und Edo hin- und herzureisen, trug dazu bei, die städtische Lebensweise auch in die fernen Burgstädte zu verbreiten.Ein neues SelbstbewusstseinDas veränderte die Gesellschaft. In den Städten entwickelte sich eine Kultur des Stadtvolkes, unübersehbar vor allem in der raffinierten Welt der Vergnügungsviertel, ebenso im Theater oder in der Unterhaltungsliteratur. Auch zahlreiche Verlage in Kyōto und Leihbuchhändler, die mit den neuesten Fortsetzungsromanen hausierten, sind Merkmale dieser städtischen Kultur, die an der Wende zum 18. Jahrhundert einen Höhepunkt erlebte. Auf dem Land zerbrachen die patriarchalisch geprägten Bindungen zwischen reichen Bauern, Kleinbauern, Pächtern und Arbeitern. An ihre Stelle trat das Vertragsverhältnis, das von Gleichberechtigten ausgehandelt wurde — Ausdruck des wirtschaftlichen Wertes der Arbeitskraft.Und alle Schichten trugen ein neues Selbstbewusstsein zur Schau. Die Klage über widerspenstiges Gesinde dokumentiert es für die Unterschichten, bei den Kaufleuten wurde es im Umgang mit Kriegern und Daimyō erkennbar. Reiche Bauern begannen, Hauslehrer zu beschäftigen, die ihre Kinder in Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichteten. Die Blüte bäuerlicher Agrarschriften um diese Zeit zeigt den Bildungsgrad dieser ländlichen Oberschicht. Im 19. Jahrhundert wird von Bauern berichtet, die sich von Samurai in den Kriegskünsten unterweisen ließen, und von anderen, die einen Krieger, der um einen Kredit bat, beschieden, er solle erst seine Verhältnisse ordnen und seinen nichtsnutzigen Bruder davonjagen. Auch die Zunahme von Aufständen kann zumindest teilweise dem neuen Selbstverständnis zugerechnet werden, wenngleich sie ebenso darauf hinweist, dass der Verteilungskampf härter wurde. Beim Schogunat weckte diese Entwicklung Besorgnis, und so ergoss sich ein Strom von Ermahnungen über das Volk, die vor Luxus warnten und zu Fleiß und Bescheidenheit anhielten — vergeblich, wie die ständige Wiederholung zeigt. Im 19. Jahrhundert verkauften Schogune und manche Daimyō an reiche Bauern das Recht, einen Familiennamen und zwei Schwerter zu führen — beides Privilegien der Krieger —, um damit ihre Kassen aufzubessern, während gleichzeitig arme Samurai sich genötigt sahen, Bauern- und Kaufmannssöhne zu adoptieren oder gar Schwert und Rüstung zu verkaufen.Die schwierige Lage der KriegerSeit dem frühen 18. Jahrhundert waren die Schogune und viele Daimyō ständig verschuldet. Neue Einkünfte zu erschließen war schwer und gelang nur einigen Daimyō, denn gegen Steuererhöhungen setzten sich die Bauern mit Aufständen zur Wehr. Vielen blieben nur die Kredite der Kaufleute. Insofern hatten die konfuzianischen Gelehrten mit ihren Warnungen Recht: Die Situation stärkte die Kaufleute und bedrohte die Machtgrundlage der Krieger. Auch die Geschlossenheit des Kriegerstandes war gefährdet. Zwar war das Verhältnis zwischen Daimyō und Gefolgsleuten durch den Treueeid ethisch fundiert, doch hatte es in der Abhängigkeit der Krieger von den Zahlungen ihrer Herren auch eine ökonomische Seite. Da viele Daimyō auch die Bezüge ihrer Gefolgsleute kürzten, lockerte sich die Bindung zwischen beiden. In der 2. Hälfte der Edozeit wuchs deshalb die Zahl der herrenlosen Krieger (rōnin). Wenn sie nicht anderswo in Dienst traten, wurden sie Bauern oder Kaufleute, nutzten ihre Fähigkeiten als Lehrer oder gingen unter die Räuber.Dreimal versuchte das Schogunat, das Rad zumindest aufzuhalten: Zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit der Kyōhō-Reform, an der Wende zum 19. Jahrhundert mit der Kansei-Reform und um die Mitte desselben Jahrhunderts mit der Tempō-Reform. Ungeachtet aller wirtschaftspolitischen Maßnahmen verfolgten diese Reformen stets ein ethisches Ziel: die Rückkehr zu den Tugenden des einfachen Lebens. Aber das Rad ließ sich nicht aufhalten, nur die Schwäche des Schogunats wurde von Mal zu Mal offensichtlicher. Der Vorrang der Moral vor der wirtschaftlichen Sanierung musste die Kriegerherrschaft schwächen, das Beharren auf der Naturalwirtschaft verhinderte wirksame Reformen. Die Konzentration auf den Ackerbau band das Interesse an die Landwirtschaft, obgleich eine sinnvolle Gewerbepolitik bessere Möglichkeiten geboten hätte. Bemühungen in diese Richtung waren in einigen Territorien erfolgreich, wurden aber im Bereich des Schogunats rückgängig gemacht, bevor sie wirksam werden konnten. Die Betrachtung wirtschaftlicher Prozesse aus dem Blickwinkel der konfuzianischen Soziallehre verhinderte ein weniger theorielastiges Verständnis. Am Ende hatte das Schogunat Macht und Ansehen verloren.So hatten die Tokugawa mit der auf Stabilisierung zielenden Neuordnung eine Dynamik in das System gebracht, die den ursprünglichen Absichten zuwiderlief: Was auf Statik und Dauer angelegt war, erwies sich als systemverändernd zum Nachteil der Krieger. Die scheinbar so festgefügte Standesordnung indessen zeigte sich im Widerspiel mit der dynamischen Entwicklung überraschend flexibel. Das lag zum einen daran, dass die Strenge der konfuzianischen Lehre durch pragmatisches Denken gemildert wurde. Schon im 17. Jahrhundert waren Bauern und Krieger in den Kaufmannsstand übergegangen — so entstand etwa das Haus Mitsui —, reiche Kaufleute investierten in die Kultivierung neuen Ackerlandes und verwischten so den Unterschied zum Bauernstand, während im späten 17. Jahrhundert bäuerliche Unternehmer auftraten, die sich erst in der Sakebrauerei, dann auch in der Weberei, Spinnerei und in anderen Gewerben etablierten. Sogar Positionen in der Verwaltung wurden gelegentlich nach Fähigkeit und nicht nach Rang besetzt, eine Übung, von der später konservativere Staatsmänner wieder abrückten. Auch dass beispielsweise in Kanazawa wichtige Kaufleute zur Beratung in die Burg des Daimyō gerufen wurden, zeigt, wie flexibel die Standesordnung gehandhabt wurde.Zum anderen trug auch die Haltung des Kriegerstandes zu dieser Stabilität bei. Seine Anpassungsfähigkeit, die in der Umwandlung der mehr in den Kriegskünsten als in den Wissenschaften bewanderten Samurai in eine Verwaltungselite deutlich wurde, ging Hand in Hand mit der Loyalität für Herrn und Territorium. Weil in Japan das konfuzianische Denken mit den eher archaischen Kriegertugenden und ihrer Gefolgschaftstreue zusammentraf, wurde hier die Bindung der Krieger an ihren Herrn, an das Territorium, betont, während in China und Korea die Bindung an die Familie vorherrschend blieb. Dass diese Bindung sich später auf ganz Japan oder, in der Phase der Modernisierung, auf die Firma übertragen ließ, sei nur am Rande vermerkt, hier wirkte sie im Einsatz für das Heimatterritorium.Aufstieg durch BildungAuch die hohe Bewertung der Bildung trug zur inneren Stabilität bei. Sie wurde nicht nur von den Kriegern gefordert, um ihren Vorrang zu wahren, sondern blieb auch Angehörigen anderer Stände zugänglich. Bedeutende Gelehrte mit einer großen Schülerschaft entstammten anderen Ständen und dokumentierten so eine gesellschaftliche Offenheit, die bei weitem nicht überall anzutreffen war. Der Zugang zur konfuzianischen oder priesterlichen Gelehrsamkeit bot den Angehörigen anderer Stände eine Möglichkeit der Emanzipation, die zwar nicht die Standesgrenzen überwinden konnte, ihren Adepten aber den Eintritt in eine Welt ermöglichte, in der solche Standesgrenzen in den Hintergrund traten.Von gleicher Bedeutung ist das Fehlen von Orthodoxie. Es gab — und das im Jahrhundert der europäischen Glaubenskämpfe — keine Lehre, der die Stellung einer Staatsdoktrin eingeräumt wurde. Zwar genoss die neokonfuzianische Shushi-Schule die Förderung durch das Schogunat, daneben aber blühten konkurrierende Schulen. Selbst als das Schogunat 1790 mit dem Verbot heterodoxer Studien regulierend eingriff (Kansei igaku no kin), zielte die Maßnahme nur auf die Ausbildung für den Bedarf der Verwaltung und bedeutete nicht das grundsätzliche Verbot anderer Schulrichtungen. Die Freiheit der Gelehrsamkeit von Orthodoxie und von gesellschaftlichen Beschränkungen hat für das System stabilisierend gewirkt und den Konsens bewahrt, nach dem konfuzianisches Denken die Grundlage des Staatswesens und der Gesellschaft war. Dies lässt sich ausgerechnet an den Aufständen zeigen, die mit der fortschreitenden Epoche immer zahlreicher wurden. Sie richteten sich gegen Missstände, gegen Versuche, die Steuern zu erhöhen, gegen Beamtenwillkür oder ungerechte Daimyō, aber sie hatten nicht die Veränderung der Gesellschaft zum Ziel und endeten meist damit, dass Abhilfe geschaffen wurde. Erst in der ausgehenden Epoche demonstrierten sie auch den Wunsch nach Reformen.Eine Epoche geht zu EndeDie Abschließung, die den Verkehr mit der Außenwelt einschränkte, war doch nie so strikt, dass keine Nachrichten über den Westen ins Land gelangt wären. Zwar dienten die regelmäßigen Berichte der Niederländer nur der Unterrichtung des Schogunats, doch waren seit der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts das Einfuhrverbot für Bücher mit westlichem Inhalt gelockert und auch die Kontakte mit Angehörigen der niederländischen Faktorei erleichtert worden. So konnte sich die »Holländische Wissenschaft« (rangaku) entwickeln, die durch Übersetzungen westliches Wissen erschloss. Als 1823 Philipp Franz von Siebold in holländischen Diensten nach Japan kam, erhielt diese Wissbegierde neue Nahrung. Siebold konnte das Vertrauen der Behörden gewinnen und durfte auf einem Grundstück außerhalb der niederländischen Faktorei als Arzt japanische Patienten behandeln und Gelehrte und Ärzte wissenschaftlich unterweisen. Freilich sammelte er Informationen über Japan, und als entdeckt wurde, dass er sogar Landkarten erworben hatte, war das Vertrauen zerstört; Siebold wurde 1829 nach langen Verhören ausgewiesen — eine milde Strafe, verglichen mit dem Schicksal einiger seiner treuesten Schüler, die hingerichtet wurden.Dieser Siebold-Zwischenfall war deshalb so gravierend, weil er das Gefühl einer latenten Bedrohung durch den Westen zu bestätigen schien, das sich im ausgehenden 18. Jahrhundert verschärft hatte, als russische Schiffe von Norden her in japanische Gewässer vorrückten. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts war auch die Gefahr im Süden gewachsen, wo sich die Briten um eine Öffnung Japans bemühten und zudem bei dem Versuch beobachtet wurden, in japanischen Gewässern Vermessungen vorzunehmen. So gesellte sich nun zu den wachsenden inneren Problemen die Sorge vor einem westlichen Angriff. An eine Öffnung war nicht zu denken, zumal im Zusammenhang mit der Kansei-Reform die Abschließungspolitik eher noch eine Verhärtung erfahren hatte. Selbst die Diskussion des Themas in einem vertrauten Zirkel wurde hart bestraft. Vielmehr versuchte das Schogunat, das Problem durch den Befehl zur Beschießung und Vertreibung fremder Schiffe zu lösen.In dieser angespannten Lage trafen aus China die Berichte über den britischen Sieg im Opiumkrieg ein. Mit großer Hektik bemühte man sich um eine Verbesserung der Küstenverteidigung, in verschiedenen Territorien wurde mit westlichen Methoden der Eisenverhüttung und des Geschützgusses experimentiert. Auch daran war die Holländische Wissenschaft durch die Erschließung der erforderlichen Technik aus holländischen Büchern beteiligt. Der Erfolg indessen stellte sich für diesen Zweck zu spät ein.Die Öffnung Japans und das Ende des SchogunatsEs waren schließlich amerikanische Schiffe, die unter Kommodore Matthew Perry die Öffnung Japans erzwangen. Amerika hatte das Interesse an Japan erst spät entdeckt, ein Interesse, das wirtschaftliche Motive — Stützpunkte für den Walfang und Chinahandel zu erhalten — mit den Wünschen der Missionsgesellschaften und der Überzeugung von der gottgewollten Bestimmung Amerikas verband. Entgegen den japanischen Vorschriften fuhr Perry 1853 mit seinen »schwarzen Schiffen« in die Bucht von Edo ein, um ein Schreiben des amerikanischen Präsidenten zu überreichen. Der russische Admiral Jefim Wassiljewitsch Putjatin befolgte dagegen die japanischen Anweisungen und steuerte Nagasaki an, wo er von Perrys Ankunft erfuhr. Am 31. Juli 1854 erzwang Perry den Vertrag von Kanagawa, der amerikanischen Schiffen japanische Häfen öffnete.Damit war die Abschließung Japans beendet, und als ob das Schicksal der Tokugawa tatsächlich an das »Dogma der Abschließung« geknüpft gewesen wäre, leitete die Öffnung Japans auch den Sturz des Schogunats ein. Schon im Vorfeld der Verhandlungen mit Perry hatte der Schogun die Daimyō zum Problem der Öffnung befragt und war damit von seinem Vorrecht abgerückt, allein die japanische Außenpolitik zu bestimmen. Die Antworten waren überwiegend negativ, manche hatten darauf verwiesen, dass der Titel Schogun »der die Barbaren vertreibende Großgeneral« bedeutet. Nun bot die Öffnung Japans den Gegnern des Schogunats Gelegenheit, diesem den Verrat japanischer Interessen anzulasten, und so stellten sich vor allem die alten Feinde der Tokugawa an die Spitze einer Bewegung, die mit dem kaiserlichen Hof zusammenarbeitete und unter der Losung »Ehrt den Tenno, vertreibt die Barbaren« die Politik des Schogunats bekämpfte.Die Situation spitzte sich zu, als sich nach Verträgen mit weiteren Staaten — Großbritannien 1854, Russland 1855, den Niederlanden 1856, Frankreich und Preußen 1861 — Fremde in den geöffneten Hafenstädten niederließen. Eine Welle der Fremdenfeindlichkeit zog über das Land, mit Anschlägen und der Beschießung ihrer Schiffe suchte man die Eindringlinge zu vertreiben; Japan stand an der Schwelle zum Bürgerkrieg. Die Westmächte antworteten mit Härte und beschossen 1863 Kagoshima, 1864 Shimonoseki. Mit einer Flottenparade in der Bucht von Kobe erzwangen sie 1865 die Ratifikation der Verträge durch den Tenno. Das darauf folgende Ringen um eine Lösung zog sich bis in den Herbst 1867 hin, als junge Samurai aus den westlichen Territorien im Handstreich die Restauration der kaiserlichen Macht verkündeten und den Rücktritt des letzten Schoguns erzwangen. Am 3. Januar 1868 übernahmen die Gegner der Tokugawa im Namen des jungen Kaisers Mutsuhito die Regierung.Prof. Dr. Klaus MüllerWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Japan: Die Meijireformen 1868 bis 1890Grundlegende Informationen finden Sie unter:Japan (710 bis 1603): Vom Absolutismus des Kaisers zur Herrschaft der SchoguneBellah, Robert N.: Tokugawa religion. The values of pre-industrial Japan. Neudruck Boston, Mass., 1970.The Cambridge history of Japan, herausgegeben von John W. Hall u. a. Band 4 und 5. Neudruck Cambridge u. a. 1996-97.Dore, Ronald: Education in Tokugawa Japan. Neuausgabe London 1992.Keene, Donald: World within walls. Japanese literature of the pre-modern era. 1600-1867. 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Universal-Lexikon. 2012.